Vor dem Landgericht Oldenburg steht – vermutlich noch bis Mai 2019 – der Krankenpfleger Niels Högel (41) vor Gericht. Experten gehen davon aus, dass er auf Intensivstationen in Delmenhorst und Oldenburg in den Jahren 1999 bis 2005 über 200 Menschen ermordet hat. Wie soll unser Verstand das fassen?
Fassungslos sehen wir auf die Nachtseite eines Menschen, wenn wir die Berichte über Niels Högel, 41 Jahre alt, hören. Angeklagt ist er vor dem Landgericht Oldenburg wegen beispiellos vieler Morde an kranken und alten Menschen auf Intensivstationen in Delmenhorst und Oldenburg. Manche Morde können ihm schon nicht mehr nachgewiesen werden, weil die Toten einst eingeäschert wurden. Experten meinen, es könnten deutlich über zweihundert Morde gewesen sein in den sechs Jahren seiner Krankenpflege (1999–2005).
Jens Högel ist wegen erster Morde schon zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Im Laufe des damaligen Prozesses kamen weitere Taten ans Licht, die erst untersucht werden mussten, um sie jetzt auch vor Gericht zu stellen.
Högel selbst, der weitestgehend geständig ist – soweit er sich erinnern kann oder will – hat sich zu seinen Taten schon geäußert. Er meint, sie seien aus „Überforderung und Geltungssucht“ geschehen. Er habe Patienten tödliche Medikamente gespritzt, um sie wiederzubeleben und dann vor Kolleginnen und Kollegen zu glänzen – was häufig missglückte. Im Übrigen sei er in seinem alltäglichen Leben von seiner Familie und der Verantwortung für sie überfordert gewesen und habe sich in Arbeit geflüchtet. Aber auch in Alkohol und Tabletten.
Dort wollte er etwas gelten, ist zu vermuten, was ihm nichts anderes im Leben bringen konnte: Anerkennung durch Leistung. Die Ermordeten waren Mittel zu seinem Zweck.
Ohnmächtig stehen wir vor der Nachtseite eines Menschen. Die Opfer für seine Geltung waren ihm gleichgültig. Es ist nicht erkennbar, dass Niels Högel sich einfühlen konnte in das Leiden seiner Patienten und deren Angehöriger. Das ist die Tiefe des Problems: fehlende Einfühlung. Alles, auch das Schlimmste, war Mittel zu seinem Zweck, zu seiner Selbsterhöhung.
Wir brauchen immer eine Grenze der Selbstgeltung. Wir dürfen nicht selbst unser Gott sein wollen. Jeder Mensch hat Nachtseiten, natürlich. Ängste, mangelndes Wertgefühl, Schwermut. Oft können Ärzte Linderung verschaffen. Unsere Nachtseite darf aber nie in Geltungswahn umschlagen. Das verhindert die eine Grenze, die heißt: sich einfühlen. Mein Schmerz darf nicht zum Schmerz der anderen werden.
Das sagen wir uns in stillen Stunden: Mein Schmerz will ich nicht in Schmerz für andere verwandeln. Andere können nichts für meinen Schmerz, für mein Empfinden. Also darf und will ich es auch nicht an ihnen auslassen. Wenn ich die Gefahr erkannt habe – mein Leid mit mir auf andere abwälzen zu wollen – hilft es womöglich, mich damit an Gott zu wenden mit der Bitte: Demütige mich, Gott; erbarme dich meiner dunklen Seiten; und sende mir dein Licht, dass es mich leite.
(Foto nubicon.net Text F.Müller nach buhv.de)