Liebes Geburtstagskind, 70 Jahre sind es heute nach dem Kalender der Welt, dass Du wieder ein Staat neben anderen auf dieser Weltkarte bist. Darüber freue ich mich, ja auch, weil ich als Christ mit Deinem Volk geschwisterlich verbunden bin. Nein, ich verkläre Dich nicht, es gibt vieles, was nicht ideal ist, was anders und besser werden soll – wo ist das nicht? – , aber ein „Le Chaim“, ein „Aufs Leben!“ rufe ich Dir heute auf Deine 70 Jahre von ganzem Herzen zu. Ich freue mich, dass Du in dem Land der Väter und Mütter einen eigenen, selbstständigen Staat hast, wo Du in Selbstbestimmung leben kannst. In Selbstbestimmung! Das war so bitter nötig geworden nach den Erfahrungen in Europa, wo die Antisemiten nur so aus allen Löchern gekrochen waren, gerade in der Zeit, wo so viele Jüdinnen und Juden sich in die Mehrheitsgesellschaft eingliederten, ja sich viele ihr anpassten. Wenn das nur vorbei wäre. Endlich. Für immer! Oft war ich in Deinem Land. Immer habe ich die Stätte aufgesucht, die den Schrecken zeigt. Am Ende des Ganges durch die Ausstellung in Yad Vashem sehe ich auf das Land, auf die Stadt Jerusalem. Ist es so, dass der Ewige, gelobt sei er, doch das, was Menschen böse gedenken zu tun, zum Guten wenden kann? Oder doch etwas Neues entstehen lassen kann? Nein, keine Antwort, kein vorschnelles „Ja“, denn das, was da geschehen ist, erschüttert die Grundfesten. Wo war er, der Ewige? Am Ende des Ganges durch die Ausstellung angelangt: Licht und Land, die Stadt Jerusalem. Leise und verhalten ist die Freude noch, dann aber, wenn ich die Landstriche, die Dörfer und Städte erkunde, wird die Freude und besonders das Staunen groß. Sümpfe wurden trocken gelegt und zu fruchtbarem Land umgewandelt, die Wüste wurde an manchen Stellen zum blühenden Land, technisch hat sich das Land hoch entwickelt und ist in der Computertechnik führend. Mit Staunen sehe ich auf dieses Land: wie die Menschen ein gemeinschaftliches Leben in den Kibbuzim organisierten, wie moderne Städte entstanden sind, wie die Menschen vom ersten Tag an mit Anfeindung und Krieg fertig werden mussten, wie trotz der Kriege, des Terrors über die vielen Jahrzehnte hinweg dieses Land an seinen demokratischen Grundprinzipien festhält. Gewiss auch bei Dir ist nicht nur Licht, da ist auch Schatten. Die soziale Schere zwischen arm und reich geht zu weit auseinander, die ständige Bedrohung macht hart, die religiösen Eiferer werden auch bei Dir nicht weniger. Was ich Dir zu Deinem Geburtstag so sehr wünsche: Frieden! Schalom! Und, dass Europa endlich Deiner Feinde gewahr wird und nicht nur Geld verdienen will. Schäbig, was dieser Tage passiert! Und: Dass Deine Nachbarn endlich Realitäten anerkennen, dass Deine Kinder einmal nicht mehr wissen, was Sirenenalarm bedeutet, dass dieser fruchtlose Streit um Fragen, wer zuerst da gelebt hat, aufhört, und die Menschen stattdessen Freude miteinander haben am guten Hummus (Kichererbsenmus), an den wunderbaren Falafeln, dass sie am Strand von Tel Aviv miteinander tanzen und in den Bergen des Golan miteinander Wein trinken, dass das Lob zu Ehren des Einen nicht endet und dass Christen und Muslime in dieses Lob einmal einstimmen. Massel tow! Schalom! Dein Pfr. Dr. Johannes Wachowski
(foto spiegel.de text johannes wachowski)