Früher, so sagen mir manche alten Menschen, waren die Winter viel kälter. Haben Sie das auch so erlebt? Zum Glück brauchen wir nicht mehr Holz zu hacken und Kohlen zu schleppen, um uns Feuer machen zu können.
Wir brauchen nur den Knopf an der Heizung zu drehen – und schon wird es warm. Und nachts brauchen wir nicht mehr riesig dicke Federbetten und Wärmflasche, um keine kalten Füße zu bekommen. Das ist doch viel angenehmer als früher.
Aber wissen Sie, was ich vermisse? Ich vermisse die Eisblumen am Fenster, die ich als Kind so bewundert habe. Seit wir die doppelten Glasscheiben im Fenster haben, sind sie verschwunden. Wie gerne saß ich vor meinem mit Eisblumen überzogenen Fenster und staunte, wie das klare Glas über Nacht mit den zartesten Blättern und Formen überzeichnet war! Was es aber noch immer gibt, sind Eiszapfen. Manchmal hängen sie an den Dachrinnen. Glasklar und spitz. Ein Eiszapfen ist gar nicht besonders kalt; er ist nicht aus Eis, er so aus, als wäre er aus Glas. Der Eiszapfen zeigt das Ringen zwischen dem Winter und dem Frühling:
Wenn die Sonne auf das Dach oder die Zweige scheint, dann taut der Schnee und will herabfließen. Kommt aber dann wieder die große Kälte, gefriert das Wasser zu Eis und bleibt erstarrt. Erst wenn die Sonne wieder scheint, schmilzt das Eis wieder und tropft herunter. Je öfter dieser Wechsel von Wärme und Kälte geschieht, desto länger wird der Eiszapfen. Wenn er verschwunden ist, hat die Sonne gesiegt.
Und wir wissen: das wird sie tun, die Sonne! Unser Leben ist auch so ein Hin und Her zwischen Kälte und Wärme. Manche Menschen sind für uns der Inbegriff von Wärme: die Mutter vielleicht oder die Großmutter, vielleicht eine Freundin oder eine Lehrerin. In deren Nähe konnten wir aufblühen wie eine kleine Blume. Wir hatten das Gefühl, wir werden geliebt und wir dürfen so sein, wie wir sind. Jemand traut uns zu, dass wir uns zu einem guten Menschen entwickeln.
Es gibt auch Leute, bei denen fühlen wir Kälte wie im Winter. Sie sind boshaft und neidisch. Sie machen uns vor anderen schlecht oder behandeln uns wie Idioten. Sie haben einen Fehlerzoom, sind auf Fehler und Schwächen andere Menschen fokussiert. Sie sind kühl und distanziert, sie zeigen uns die kalte Schulter. Dann gefrieren wir innerlich. Wir zeigen am liebsten gar nichts von uns und rühren uns kaum, wir fühlen uns wie erstarrt. Das kann uns für den ganzen Tag verletzen und traurig machen.
Dann brauchen wir so einen Sonnenstrahl-Menschen, damit wir uns wieder wohl fühlen und das Leben mögen.
Am Ende der Zeit, so verspricht der Prophet Sacharja, in Kap. 14,6-9, wird es weder Kälte noch Frost noch Eis geben. Und auch am Abend wird es hell sein, dann, wenn Gott sich als einziger Herr über die Welt zeigen wird. Dann werden wir nicht mehr frieren, nicht am Körper und nicht am Herzen; dann wird es nicht mehr dunkel sein, nicht auf der Welt und nicht in unseren Ängsten.
Denn Gott wird das Licht und die Wärme sein, für uns und für die ganze Welt. Seine Liebe ist wie die Sonne, die alles erwärmt. So wie die Sonne alles Eis taut und Gesicht und Herz hell und warm macht, so will Gott allen Menschen Licht und Wärme bringen und von allem Schweren befreien. Und uns hat er als seine Vorboten in die Welt geschickt, dass wir den Anfang machen: dass wir der Traurigkeit ade sagen und die Freude über Gottes Liebe bei uns und anderen ausbreiten. Dass wir die Kälte unter den Menschen auftauen durch unsere Wärme und Freundlichkeit. So beginnt Gottes Welt bei uns. Wir treiben den Winter der Herzenskälte aus und lassen die Liebe wachsen. So wird Gottes Verheißung schon jetzt um uns herum wahr.
(Foto fotolia.com Text aus der Predigt vom 9.2.20 von Pfarrer F.Müller)