„Alles hat seine Zeit – und die macht Gott“
Predigt zu Pred 3,1-15
Altjahrsabend, 31. Dezember 2023
St. Johannis, St. Gumbertus, Ansbach
1Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 9Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. 10Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. 11Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. 12Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. 13Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. 14Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. 15Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
Liebe Gemeinde!
Von dem berühmten Physiker Albert Einstein ist dieses Silvesterverslein überliefert: „Wenn’s alte Jahr erfolgreich war, dann freue dich aufs neue. Und war es schlecht, ja dann erst recht.“i) So einfach kann man es sich machen. Aber kann man es sich so einfach machen?
Alles hat seine Zeit, heißt es in unserem Bibelwort aus dem Prediger Salomo. Alles hat seine Zeit, das Gute wie das Schlechte. Nimm es darum, wie es kommt. Auf Regen folgt Sonne, auf Nacht der Morgen. Gute Zeiten, schlechte Zeiten? Meint das Prediger Salomo tatsächlich so?
Unser Bibelwort gehört zur sogenannten Weisheitsliteratur. Die Weisheit war ein kulturübergreifendes Phänomen im Alten Orient gewesen. Mit Hilfe sogenannter Weisheitssprüche wollten die Menschen die sie umgebende Wirklichkeit als ein geordnetes Sein erkennen können, um sich dann in diese Ordnung einfügen zu können. Anders ausgedrückt: man stellte Regeln und Gesetzmäßigkeiten auf, um besser mit dem Leben zurechtzukommen.
Ein typischer weisheitlicher Spruch, der es bis in unsere Zeit geschafft hat, lautet: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ii) Das bedeutet, ein gegenüber einem anderen geplantes Unheil fällt auf einen selbst zurück. Was aber ist, wenn es so nicht kommt? Was ist, wenn einer, der einem anderen eine Grube gräbt, nicht in die eigene Grube fällt?
Ein anderer weisheitlicher Spruch sagt: Ein heilloser Mensch, ein nichtswürdiger Mann, wer einhergeht mit trügerischem Munde, wer winkt mit den Augen, gibt Zeichen mit den Füßen, zeigt mit den Fingern, trachtet nach Bösem und Verkehrtem in seinem Herzen und richtet allezeit Streit an. Darum wird plötzlich sein Verderben über ihn kommen, und er wird schnell zerschmettert werden, und keine Hilfe ist da. iii)
Ja, wenn es denn so wäre. Wenn es denn so wäre, dass die, die nach Bösem und Verkehrtem trachten, nicht damit durchkämen. Unsere Welt würde besser ausschauen. Aber leider kommen sie immer wieder damit durch. Und dem, der Böses im Schilde führt, fällt dieses Böse eben nicht automatisch auf die eigenen Füße. Und genau daran war die klassische Weisheitslehre im Alten Orient gescheitert mit ihren Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Denjenigen, der Böses tut, ereilt eben nicht automatisch wiederum Böses. Und der, der das Gute tut, kommt eben nicht klaglos durchs Leben.
Hier kommt nun der Prediger Salomo ins Spiel. Er stellt die direkte Kausalität aus der damaligen Weisheit in Frage. Er verneint den Zusammenhang, wonach es dem Guten automatisch auch gut geht und dem Schlechten automatisch schlecht. So einfach ist es eben nicht: Eine Phase der Trauer im Leben ist nicht das Ergebnis eines schlechten Lebenswandels. Und eine Phase der Freude ist umgekehrt nicht das Ergebnis des eigenen Wohlverhaltens. Der Prediger sagt stattdessen: alles hat seine Zeit.
Das heißt, alles hat seine je eigene Zeit. Alles hat seine Zeit nicht gleichzeitig. In einer Phase des Trauerns jemanden zum Jubilieren aufzufordern, geschieht zu Unzeit. Weil jetzt eben die Zeit der Trauer ist.
Als sich im Kalten Krieg die NATO-Staaten auf der einen Seite und die Staaten des Warschauer Paktes auf der anderen Seite mit Massenvernichtungswaffen gegenüberstanden, kam der Appell der Friedensbewegung damals, Frieden zu schaffen ohne Waffen, zur rechten Zeit. Diesen Aufruf aber nun gegenüber der von Russland angegriffenen Ukraine zu tätigen, wie es auf Kundgebungen auch hier bei uns und meist von Menschen zu hören war, die damals aktiv in der Friedensbewegung waren, ist zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht, weil er zur Unzeit geschieht. An sich richtiges Tun kann also falsch sein, wenn es zur falschen Zeit geschieht.iv)
Alles hat seine Zeit. Trauer und Freude – beides gehört zum Leben. Beide haben ihr Recht. Das meint der Prediger Salomo. Es geht nicht um Bestrafung oder Belohnung. Es geht um das Leben, das eben so ist, wie es ist. Die Schriftstellerin Ildikó von Kürthy bezeichnet den Satz „Träume nicht dein Leben, lebe deine Träume!“ als groben Unfug. Und ich finde, sie hat recht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Lasst dir dein Leben nicht von deinen Träumen ruinieren! Und sie schreibt: „Mein Leben ist gut. Nicht, weil es schön ist. Sondern weil es bunt, dunkel und hell, reich und erbärmlich, … quälend und großartig ist.“v)
Alles hat seine Zeit. Und diese Zeit – und damit geht der Prediger Salomo über Ildikó von Kürthys Feststellungen hinaus: diese Zeit kommt von Gott. Denn Zeit, so der Prediger, ist nicht einfach ein leerer Behälter, den wir zu füllen hätten. Unsere Zeit wird von Gott gefüllt. 15Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
Das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen sollen und uns passiv verhalten. Es bedeutet aber Gelassenheit. Wir können nichts erzwingen. Der Prediger sagt – und hier spüren wir wieder die weisheitliche Sehnsucht nach einer höheren Ordnung, nun aber von Gott her gedacht: Die gute Zeit, das gute Leben schenkt Gott.
Auch an diesem Altjahrsabend, wie an jedem Silvester, blicken wir zurück auf das Jahr 2023. Es war wieder ein Ausnahmejahr. Und wenn ich an die kommenden Landtagswahlen denke, könnte 2024 wieder eins werden. Ich hoffe inständig, dass es unserer Politik gelingt, die zurückzugewinnen, die sich abgehängt und unverstanden fühlen. Die Themen, die unter den Nägeln brennen, sind ja bekannt.
Dennoch können wir zuversichtlich in das neue Jahr gehen. Der Prediger weiß warum: Gott geleitet uns durch die schlechte Zeit. Und die gute Zeit macht er. In Polen hat sich in diesem Jahr der Wind gedreht. Und ist die Schreckensherrschaft der DDR nicht fast über Nacht vom Erdboden verschwunden? Gott sitzt im Regimente, aber das heißt auch abwarten müssen und können.
Aber dieses Abwarten kann zur Vorfreude werden. Und weil Vorfreude ja die schönste Freude ist, rät uns der Prediger: 12Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
Und dann ist da noch ein Halbsatz, den wir bisher nicht beachtet haben. Der Prediger sagt, Gott hat den Menschen die Ewigkeit in ihr Herz gelegt. Das bedeutet: Unsere Welt wird Gott einst neu erschaffen. Und mit ihr zusammen auch uns. Das ist auch eine der großen Hoffnungen, der wir im Jahr 2024 entgegengehen.
i) Bei Rainer Stuhlmann, GPM 78 (2023), S. 62.
ii) Vgl. Spr 26,27; Pred 10,8; Sir 27,26.
iii) Spr 6,12-15.
iv) Rainer Stuhlmann, GPM 78 (2023), S. 64.
v) Süddeutsche Zeitung vom 30.12.2023, S. 5.
DEKAN DR. MATTHIAS BÜTTNER, ANSBACH