Dekan Dr. Matthias Büttner

„Krieg und Frieden“ | Predigt zum 21. Sonntag nach Trinitatis in St. Gumbertus (Ansbach)

„Krieg und Frieden“
Predigt zu Mt 5,38-48
21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober 2024
St. Gumbertus, Ansbach

38 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ 39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. 43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben“ und deinen Feind hassen.44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Liebe Gemeinde!

Wir kennen diese Worte aus der Bergpredigt, die wir in der Evangeliumslesung vorhin gehört haben: Widerstrebt nicht dem Bösen. Biete auch die andere Wange dar. Liebt eure Feinde. Wir kennen diese Worte auch aus der Zeit des sogenannten Kalten Krieges, von der Friedensbewegung damals, auf Ostermärschen skandiert. „Frieden schaffen ohne Waffen“ hörte man dort. Oder die etwas abgemilderte Version der CDU damals „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“. Ein Blick ins Gesangbuch lässt staunen – oder eben auch nicht staunen, wie oft das Wort „Friede“ in den Liedern aus den 80er Jahren vorkommt.

Das Jesus-Wort „Widerstrebt nicht dem Bösen“ ist fast Konsens. Fast alle können sich darin wiederfinden. Anderen Jesus-Worten ist das interessanterweise nicht beschieden. Dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen könne, als ein Reicher ins Reich Gottes komme, sagt Jesus auch, aber das wird in einer weitgehenden Wohlstandsgesellschaft dann doch nicht so gern gehört. Und damit sind wir beim Punkt: Ein Bibelwort ist dann leicht ausgesprochen, wenn es mich selbst nichts kostet. Dem Bösen nicht zu widerstehen, kann der wunderbar unterschreiben, dem nichts Böses droht oder bestenfalls ein Streit mit dem Nachbarn. Umgekehrt bin ich als in ordentlichen Verhältnissen Lebender für die Sache mit dem Kamel und dem Reichen nicht so offen.

Und damit sind wir im Heute angelangt. Widerstrebt nicht dem Bösen? Es macht Sinn, in einer persönlichen Auseinandersetzung nicht zurückzukeilen und vielleicht zunächst die andere Wange hinzuhalten, um eine Konfliktsituation aufzubrechen. Aber können wir heute dieses Jesus-Wort insoliert und eins-zu-eins uns für alle möglichen Themen zu eigen machen?

Was geschieht eigentlich seit nunmehr zweieinhalb Jahren in der Ukraine? Hier wehrt sich nicht ein in die Enge gedrängtes Russland. Hier will Russland die Ukraine als Staat mit seiner kulturellen Identität auslöschen. Und weshalb? Exakt wegen der zarten Annäherung der Ukraine an den sogenannten Westen, an Demokratie und Freiheit; wegen der Tatsache, dass in der Ukraine ein Präsident ab-gewählt wurde. Die Menschen in Russland könnten das aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft und der ähnlichen Sprache mitbekommen und dann ebenfalls Lust bekommen auf Demokratie und Freiheit und ihres sich nur selbst bereichernden Regimes überdrüssig werden. Davor hat das russische Regime Angst und zwar so sehr, dass es lieber einen Krieg vom Zaun gebrochen hat.

Als der Überfall auf die Ukraine damals begann, sagt der ehemaligen Bundespräsident Gauck, ein Pfarrer und ehemaligen Regimekritiker in der DDR: das Böse habe das Haupt erhoben. Diesem Bösen sollen wir nun nicht widerstreben? Kann das in Jesu Sinn sein? Zumal Russland sich ja auch den Westen und darunter Deutschland vorgenommen hat mit der gezielten Verbreitung von Lügen, mit der Finanzierung von Parteien, die die Demokratie untergraben, mit dem Ausspionieren von Logistikzentren für etwaige Anschläge. Ist es in Jesu Sinn, hier auch die andere Wange noch hinzuhalten?

Manche denken so. Als die Theologin Petra Bahr, die Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, in einem Gespräch mit Margot Käsmann die Waffenlieferungen an die Ukraine für richtig erklärte, erwidert Käsmann: „Ich bin überrascht, wie schnell du die Bergpredigt vom Tisch wischst.“i

Wir begeben uns jetzt in eine Zeit, in der die erste deutsche Demokratie Vergangenheit war und eine Demokratie, wie wir sie heute (noch) haben, nicht vorstellbar war. Wir gehen in das Jahr 1939, genauer Dezember 1939. Hitler-Deutschland hatte drei Monate zuvor Polen überfallen. Später wird man mit diesem Ereignis den Beginn des Zweiten Weltkrieges verbinden. Im Dezember 1939 konnte das noch niemand wissen.

Der Schweizer Theologe Karl Barth war zu diesem Zeitpunkt Theologieprofessor in Basel. Er war deshalb in Basel, weil er von den Nationalsozialisten von seinem Lehrstuhl in Bonn vertrieben worden war. Karl Barth war der führende Kopf der sogenannten Bekennenden Kirche in Deutschland gewesen, die sich den Nationalsozialisten entgegenstellten. Und dieser Karl Barth schrieb im Dezember 1939 einen Brief an einen französischen Pfarrer. Hören wir jetzt aus diesem Brief:

„Die Kirche Jesu Christi kann und will nicht Krieg führen. […] Sie wird also […] gegen Hitler nicht den Kreuzzug predigen. Der am Kreuz gestorben ist, ist auch für Hitler gestorben und erst recht für alle die verwirrten Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig unter seinen Fahnen stehen. Aber eben weil die Kirche weiß um die Rechtfertigung, die wir Menschen uns selber mit keinem Mittel verschaffen können, kann sie im Großen und im Kleinen nicht gleichgültig, nicht „neutral“ sein, wo nach dem Recht gefragt, wo versucht wird, ein bißchen dürftiges menschliches Recht aufzurichten gegen das überströmende, das schreiende Unrecht. Wo es darum geht, da kann die Kirche ihr Zeugnis nicht verweigern: daß es Gottes Gebot ist, daß das geschehe auf Erden, daß Gott eben dazu die Obrigkeit eingesetzt und ihr das Schwert gegeben hat, und daß die Obrigkeit, die das Recht zu schützen versucht, trotz aller Fehler, derer sie sonst schuldig sein mag, sich eben damit als rechte Obrigkeit legitimiert und von jedermann Gehorsam in Anspruch nehmen darf. Es wäre bedauerlich, wenn die christlichen Kirchen, nachdem sie in früheren Kriegen so oft gedankenlos nationalistisch und militaristisch geredet haben, gerade in diesem Krieg gedankenlos neutral und pazifistisch schweigen wollten. Sie sollen heute in aller Bußfertigkeit und Nüchternheit um einen gerechten Frieden beten und in derselben Bußfertigkeit und Nüchternheit allem Volke bezeugen, daß es nötig und der Mühe wert ist, für diesen gerechten Frieden zu streiten und zu leiden. Sie sollen den Völkern der demokratischen Staaten wahrhaftig nicht einreden, daß sie so etwas wie Gottesstreiter seien: sie sollen ihnen aber sagen, daß wir um Gottes willen menschlich sein dürfen und gegen den Einbruch der offenen Unmenschlichkeit mit der Kraft der Verzweiflung uns wehren müssen. Die Kirchen sind es auch den Christen in Deutschland und dem ganzen deutschen Volke schuldig, ihm zu bezeugen: Eure Sache ist nicht gut! Ihr irrt euch! Laßt von diesem Hitler! Hände weg von diesem Krieg, der ganz allein sein Krieg ist! Kehrt um, solange es noch Zeit ist! Warum sind die Vertreter und Organe der ökumenischen Kirchenbewegung in allen diesen Jahren und noch während der fatalen Entwicklung des letzten Sommers und Herbstes so diplomatisch stumm geblieben, als ob es kein prophetisches Amt Jesu Christi und als ob es keinen Wächterdienst der Kirche gäbe? Warum hörte und hört man jetzt nicht ganz selten Stimmen […, die] fast schadenfroh […] fest[…]stellen, daß die heute gegen Hitler stehen, ihrerseits auch keine Heiligen sind? Eben die Erkenntnis, daß Gott allein heilig ist, wird uns aus der Pflicht des heute zu leistenden Widerstandes schwerlich entlassen, im Gegenteil! Die Kirche wird in allen Ländern viel zu trösten haben in den dunklen Zeiten, in die wir allem Anschein nach hineingehen. Sie wird aber nur dann wirklich zu trösten vermögen, wenn sie jetzt ohne Haß […] ernst und offen sagen will, daß Widerstand heute notwendig ist.“ii Soweit aus dem Brief von Karl Barth.

Hintergrund des Briefes war die Bitte um ein Grußwort Karl Barths für eine französische Kirchenzeitung. Aber besonders spannend ist, dass dieser Brief von Karl Barth erst quälende fünf Jahre später kurz nach dem Ende des Krieges im Juni 1945 veröffentlicht wurde. Im Rahmen dieser Veröffentlichung beklagte Karl Barth, dass er damals ein einsamer Rufer gewesen war und dass die Bischöfe und Kirchenleitungen damals geschwiegen hatten.iii

Zurück in unsere Zeit. Liebe Gemeinde, es wird die Zeit kommen und davon bin ich überzeugt, in der Russland wieder in die Gemeinschaft der Völker der freien Welt zurückgekehrt sein wird. Es wird die Zeit kommen, wo viel zu vergeben sein wird. Wer wüsste das aus eigener Erfahrung nicht besser als wir Deutschen. Aber jetzt ist die Zeit des Zeugnisses an die Menschen und an das Regime in Russland: Eure Sache ist nicht gut! Ihr irrt euch! Hände weg von diesem Krieg! Kehrt um, solange es noch Zeit ist! Jetzt wäre die Zeit, dass politische Würdenträger aus der ganzen Welt den russischen Präsidenten mit Fragen durchlöchern, wie er ernstlich auch nur eine Kerze noch im Gottesdienst entzünden kann. Jetzt wäre die Zeit, dass kirchliche Würdenträger aus der ganzen Welt, die ja sonst so gerne um die Welt reisen, dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche einen Besuch nach dem anderen abstatten und ihn fragen, wann er das letzte Mal seine Bibel aufgeschlagen hat und ihm vielleicht den Brief Karl Barths von 1939 mitbringen und am Ende mit ihm aus Tolstois „Krieg und Frieden“ lesen. Dazu wäre jetzt die Zeit.

Das wäre jetzt echte Feindesliebe. Das hieße jetzt das Böse mit Gutem zu überwinden. Das entspräche jetzt dem Geist der Liebe, von dem wir jetzt gleich singen werden.


DEKAN DR. MATTHIAS BÜTTNER, ANSBACH

i Bei MARTIN VAHRENHORST, GPM 78 (2024), S. 465.
ii KARL BARTH, Ein Brief nach Frankreich (1939): Karl Barth, Eine Schweizer Stimme. 1938-1945, Zürich 31985, S. 111f.
iii KARL BARTH, Eine Schweizer Stimme. 1938-1945, Vorwort, Zürich 31985, S. 6f.

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