„Es wird wieder licht“
Predigt zu Jes 9, 1-6*
Heilig Abend, 24. Dezember 2024
St. Johannis Ansbach
Liebe Gemeinde,
Es ist Weihnachten geworden. Und heute an Heilig Abend hören wir beim Propheten Jesaja: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Ein Jahr geht zu Ende, in dem wir, wer weiß wie oft, den Kopf geschüttelt haben über das, was um uns herum geschehen ist. Vielleicht haben wir uns auch die Haare gerauft über nicht enden wollende Tragödien. Oder haben sogar verzweifelt unser Gesicht in die Hände vergraben. Aber heute Abend wollen wir das helle Licht der Geburt Jesu über unserem Leben scheinen lassen – wie das Volk, das damals im Finstern wandelte und erfahren hat: es wird wieder licht.
Die Kinder im Religionsunterricht singen: „Das wünsch ich sehr, dass immer einer bei mir wär’, der lacht und spricht: fürchte dich nicht.”i Großes ganz einfach gesagt. Und nichts anderes singt der Prophet Jesaja heute Abend für uns: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. […] Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.
Wir kennen die Sehnsucht, dass es wieder licht werden möge: für diese Welt, für unser Land, für dich und mich. „Das wünsch ich sehr, dass immer einer bei mir wär’, der lacht und spricht: fürchte dich nicht.” Und dieser Wunsch, diese Sehnsucht verbindet heute Abend uns alle miteinander.
Ein dänischer Fernsehsender hat vor Jahren einen Videospot gemacht mit dem Titel „Alles, was wir gemeinsam haben“. Eigentlich sollte der Spot Werbung für den Fernsehsender sein, dann aber wurde er zu einer Art von Antwort auf den Regierungsstil des damals frisch gewählten US-Präsidenten, der – wer hätte das damals gedacht – in ein paar Wochen seine zweite Präsidentschaft antritt. Der Videoclip beginnt damit, dass unterschiedliche Menschengruppen sich in einem Saal auf ihrem jeweiligen Platz versammeln. Da sind die sichtlich Wohlhabenden und die sichtlich nicht so Wohlhabenden, Dorfbewohner und Stadtkinder, Zugezogene und Alteingesessene, die Vertrauenswürdigen und die Zwielichtigen – alle fein säuberlich voneinander getrennt. Sie beäugen sich skeptisch. Dann tritt ein Moderator ins Bild. „Willkommen, ich werde euch heute ein paar Fragen stellen. Einige davon könnten etwas persönlich sein.“ Und dann legt der Moderator los: „Wer von euch war der Klassenclown? Wer sich angesprochen fühlt, tritt bitte nach vorne.” Dann geht es weiter: „Wer hat ein Stiefkind?“ „Wer glaubt an ein Leben nach dem Tod?“ „Wer von euch fühlt sich einsam?“ Plötzlich entstehen ganz neue Konstellationen. Die Menschen, die sich eben noch skeptisch bis feindselig beäugten, beginnen sich anzuschauen, zu lächeln. Und auf einmal wird deutlich, dass alle viel mehr miteinander teilen, als sie noch vor kurzem dachten.ii
Das ist es doch, was unsere Welt an diesem Weihnachtsabend braucht: das Bewusstsein, dass wir viel mehr miteinander teilen, als wir zurzeit vielleicht sehen. Wir müssen wieder mehr das finden, was uns vereint. Und gemeinsam ist uns heute Abend diese wunderbare Verheißung von Weihnachten, dass es wieder licht wird.
Der Prophet Jesaja berichtet uns mit drastischen Worten und Bildern, was die Menschen seiner Zeit hinter sich haben: Du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen […]. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Der Klang dröhnender Soldatenstiefel ist zurück in Europa. In anderen Teilen der Welt war er zusammen mit einem drückenden Joch nie weg. Doch genau in diese Welt kommt Gott. Er holt uns nicht heraus, sondern kommt zu uns. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben. Und: die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Es wird wieder licht. Joch und Stiefel werden verschwinden. Und auch wir werden sehen, wie es wieder licht wird.
Gott wird Mensch. Und wir Menschen kommen dadurch zu Gott. Es ist wie eine doppelte Staatsbürgerschaft. Zu unserer irdischen kommt eine himmlische Staatsbürgerschaft dazu. Wer zwei Staatsbürgerschaften hat, ist freier. Er hat noch eine weitere Option. Um so mehr gilt das für eine zweite himmlische Staatsbürgerschaft. Diese ist bestimmt von der Herrschaft des Kindes, das die Namen trägt: Wunderbarer Ratgeber, Heldengott, Vater für alle Zeit, Friedensfürst. iii
Die himmlische Staatsbürgerschaft kann uns niemand nehmen. Sie ist für uns wie eine große Rückversicherung. Und sie hat Auswirkungen auf unsere irdische Staatsbürgerschaft. Die himmlische Sicherheit lässt mich im Hier und Jetzt mehr vertrauen. Vertrauen in unsere Institutionen, vertrauen in Menschen. Ein wenig wie in dem Videospot. Weil ich sicher sein kann, es wird wieder licht.
Paul Gerhardt hat das aus der Krippe hervorscheinende Licht in unnachahmlich schöne Worte gefasst: „Ich lag in tiefster Todesnacht, / du warest meine Sonne, / die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben, Freud und Wonne. / O Sonne, die das werte Licht / des Glaubens in mir zugericht’, / wie schön sind deine Strahlen!“iv
Voller Ehrfurcht stehen wir heute wieder an Jesu Krippe. Ehrfurcht, so haben kürzlich Psychologen herausgefunden, löst das beglückende Gefühl aus, mit etwas Größerem verknüpft zu sein als nur mit dem eigenen Selbst. Es entsteht Gemeinschaft unter uns. Der Fokus geht vom Ich zum Wir.v Wir teilen gemeinsam die himmlische Staatsbürgerschaft.
Unsere Welt ist wie sie ist. Beim Apostel Paulus (Röm 8,24f.) heißt es einmal: Wir sind gerettet, aber noch ist alles Hoffnung. Eine Hoffnung, die sich schon sichtbar erfüllt hat, ist keine Hoffnung. Wenn wir aber auf etwas hoffen, dann heißt das, dass sich schon etwas zum Guten ändert. Die Hoffnung von Weihnachten ist wie Glut unter der Asche, die schon jetzt erstaunlich gut wärmt. Und die uns die Gewissheit ins Herz gibt: Es wird wieder licht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
DEKAN DR. MATTHIAS BÜTTNER, ANSBACH
i Text: Kurt Rose, Melodie: Detlev Jöcker (1984)
ii Der Videospot lautet: „All That We Share” https://www.youtube.com/watch?v=jD8tjhVO1Tc [22.12.2024]
iii Übersetzung von Jes 9,5 nach der Züricher Bibel von 2007.
iv Evangelisches Gesangbuch für Bayern und Thüringen, Nr. 37,3.
v Süddeutsche Zeitung vom 23.12.2024, S. 1 unter Berufung auf den Psychologen Paul Pfiff im Fachjournal „Current Opinion in Psychology“.