„Wir dürfen da sein“
Predigt zu 1. Mose 8, 18-22
20. Sonntag nach Trinitatis, 02. November 2025
St. Johannis, Ansbach
18So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, 19dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. 20Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. 21Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. 22Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Liebe Gemeinde,
Die Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah: sie gehört zur Weltliteratur. Unzählige Kindergärten tragen den Namen „Arche Noah“. Und unzähligen Kindern wurde und wird die Geschichte von Noah erzählt, wie er als einziger Gnade findet vor den Augen Gottes inmitten einer verdorbenen Welt. Es gibt eine Arche Noah sogar von Playmobil. Und in dem Katastrophenfilm von Roland Emerich aus dem Jahr 2012 mit eben dem Titel 2012 werden sechs riesige Archen gebaut, um der Menschheit das Überleben zu sichern.
Die Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah fasziniert deswegen, weil sie uns mit riesigen unsichtbaren Buchstaben vor Augen malt: Für uns Menschen gibt es Platz auf dieser Erde trotz allem. Das mag uns zunächst verwundern. Weshalb muss uns Menschen – am Ende noch voller Gnade – ein Platz auf dieser Erde zugewiesen werden?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen Mensch und übriger Schöpfung: der Mensch besitzt die Eigenschaft der Vernunft und kann daher sein Lebensumfeld gestalten; der Rest der Schöpfung hat diese Möglichkeit in aller Regel nicht. Diesen Unterschied betrachten wir heute differenzierter als noch vor 100 Jahren. Wir wissen, dass Buckelwale sich gegenseitig mit Namen kennen und eine Art Sprache haben. Wir wissen, dass auch Bäume eine Art Kommunikationssystem haben. Und wir wissen von so viel atemberaubenden Dingen aus der Natur, die die menschliche Vernunft oft in den Schatten stellen. Aber ein Unterschied bleibt: wir Menschen gehören hier eigentlich nicht her auf diese Erde – eigentlich.
Warum gehören wir eigentlich nicht her? Weil wir das einzige Lebewesen sind, dass aus dem Kreislauf der Natur ausscheren kann und auch ausschert, weil wir unser Lebensumfeld selbst gestalten können. Wir sind das einzige Lebewesen, dass sich vom Kreislauf der Natur emanzipieren kann; zumindest in weiten Teilen. Tiere und Pflanzen sind Kälte und Dunkelheit ausgesetzt, müssen mit ihnen umgehen, notfalls ihnen entgehen: durch Winterschlaf oder Wanderbewegungen in wärmere Länder. Wir können Licht und Wärme erzeugen. Das ist gut für uns. Aber umgekehrt stören wir damit den Kreislauf der Natur. Und das in deutlich höherem Tempo seit der Industrialisierung.
Im negativ schlimmsten Fall könnten wir Menschen mittels der Atomkraft sogar diese Erde als Lebensgrundlage zerstören. Kein Buckelwal wäre dazu in der Lage. Wir Menschen stören den Kreislauf der Natur. Und wir im 21. Jahrhundert lebenden Menschen spüren das so deutlich wie keine Generation vor uns in Gestalt des menschgemachten Klimawandels.
Wir Menschen gehören eigentlich nicht her auf diese Erde: weil wir ihr gefährlich werden können. Das ist der Kern der Sintflutgeschichte. Gott befreit in der Sintflut die Erde von den Menschen. Es wird durch die Flut zwar nahezu alles Leben ausgelöscht. Aber das Leben kommt auf geheimnisvolle Weise nach der Sintflut zurück, nachdem sich die Wasser verlaufen haben. Die Menschen aber kommen nur deshalb zurück, weil Gott Noah und die Seinen eine Arche zu bauen befohlen hat.
Als die Sintflut zu Ende geht und Noah mit den Seinen und allen Tieren aus der Arche gehen kann, spricht Gott zu ihm: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Das ist nun wirklich merkwürdig! Denn der Umstand, dass das Dichten und Trachten des Menschen böse ist, war ja gerade der Grund für die Sintflut! Nach der Sintflut ist es nun keineswegs besser um den Menschen bestellt: sein Dichten und Trachten ist immer noch böse. So stellt es Gott unmissverständlich fest. Aber nun — und das ist der Punkt! — will Gott trotzdem keine Flut mehr kommen lassen.
Das ist eine unerhört bemerkenswerte Anerkenntnis des Menschen durch Gott.i Das böse Dichten und Trachten des Menschen wird nicht mehr geahndet wie noch vorher durch die Sintflut. Und dadurch, dass es nicht mehr geahndet wird, beginnt etwas Neues. Wir Menschen dürfen nun da sein – trotz allem. Wir Menschen gehören nun auf diese Erde, obwohl wir eigentlich nicht hineinpassen. Für uns Menschen gibt es einen Platz auf dieser Erde.
Das ist eine hoffnungsvolle Botschaft, die jedem Zynismus eine Absage erteilt. Es ist aber auch eine Botschaft, die uns eine große Verantwortung auferlegt.
Die Sintflutgeschichte erteilt dem Zynismus eine Absage, wonach ein Sterben vieler Menschen etwa durch eine Naturkatastrophe doch gut für das Ökosystem sei. Stattdessen nimmt uns die Sintflutgeschichte in die Verantwortung. Den von Menschen verursachten sauren Regen, der in den 80er Jahren die Bäume sterben ließ, konnte durch die Technik der Abgasreinigung Einhalt geboten werden. Das von Menschen verursachte Ozonloch, konnte durch die Verwendung anderer Kühlmittel wieder geschlossen werden. Jetzt stehen wir vor der Verantwortung des menschgemachten Klimawandels. Und wir haben die Mittel, die gefährliche Erwärmung der Erde zu stoppen. Gäbe es uns Menschen nicht, gäbe es auch keinen menschgemachten Klimawandel. Umgekehrt wären wir Menschen keine Menschen, wenn wir nicht die Mittel hätten, die gefährliche Erwärmung der Erde zu stoppen. Deshalb müssen wir handeln. Wir können es und darum dürfen wir da sein: das ist die Botschaft der Sintflutgeschichte.
Für uns Menschen gibt es einen Platz auf dieser Erde. Das lässt sich nun weiter durchbuchstabieren. Im Evangelium für diesen Sonntag segnet Jesus Kinder, die zu ihm gebracht werden. Damit gibt Jesus den Kindern Raum, Kinder zu sein – und nicht Noch-nicht-Erwachsene. Jahrhunderte später entwickelte man eine spezielle Kinder- und Jugendmedizin, weil Kinder Kinder und keine Noch-nicht-Erwachsene sind. Kinder haben damit einen Platz auf dieser Erde.
Ebenso hat auch die Beziehung zwischen zwei Menschen ihren Platz, der ihnen nicht streitig gemacht werden darf. Auch darum geht es im Evangelium dieses Sonntags. Auch wenn die Worte Jesu sehr schroff klingen. Aber das liegt daran, dass zur Zeit Jesu ein Mann sich relativ leicht von seiner Frau scheiden lassen konnte, eine Frau umgekehrt aber nicht. Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden, das heißt: hier hat sich niemand von außen einzumischen. Diese zwei Menschen haben ihren Platz, den ihnen niemand streitig machen darf.
Obwohl wir nicht hierher passen, gibt es für uns Menschen einen Platz auf dieser Erde. Wir dürfen da sein. Wir dürfen es einfach. So schallt es aus der Ferne der Sintflutgeschichte zu uns herüber ins 21. Jahrhundert. Und ebenso das zweite: nehmt euere Verantwortung wahr, die ihr als Menschen habt. Für euch selbst, die Menschen um euch herum und letztlich für diese ganze Welt.
Darum ist die Sintflutgeschichte Weltliteratur. Und noch viele Kindergärten werden den Namen „Arche Noah“ tragen.
DEKAN DR. MATTHIAS BÜTTNER, ANSBACH
i HANS-CHRISTOPH ASKANI, GPM 71 (2017), S. 464.