„Familie 2.0“
Predigt zu MK 3,31-35
13. Sonntag nach Trinitatis, 14. September 2025
St. Johannis, Ansbach
31Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. 32Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Liebe Gemeinde,
Jesus und seine leibliche Familie: ein kompliziertes Thema. Es beginnt damit, dass Josef nicht Jesu Vater im biologischen Sinn ist. Josef erscheint merkwürdigerweise dennoch im Stammbaum Jesu, spielt aber sonst keinerlei Rolle in den Erzählungen über Jesus, wie auch in dieser Begebenheit hier.
Überhaupt: diese Begebenheit. Jesus, umgeben von vielen Menschen, wird auf seine Mutter und Geschwister draußen vor der Tür angesprochen. Und seine Antwort: Wer Gottes Willen tut, der ist ein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Heißt das: die da draußen sind es nicht?
Nein, Jesus bricht hier nicht mit seiner leiblichen Familie. Auch wenn diese es ihm nicht immer leicht gemacht hat und von ihm einmal sagte, er sei von Sinnen. Was sich aber in dieser Begebenheit ereignet und verdichtet, zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel. Die Familie oder zu biblischer Zeit die Sippe wird neu gedacht, weil nämlich Gott ins Spiel kommt.
Machen wir einen Besuch bei einer der berühmtesten Frauen in der Bibel: bei Ruth. Einen Satz von ihr kennen wir alle: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen. Ein Satz, der so wunderbar zu einer Trauung passt. Nur hat Ruth diesen Satz nicht zu ihrem Mann, sondern zu ihrer Schwiegermutter gesagt.
Was war geschehen: Alles beginnt mit einem Mann aus Israel, der mit seiner Frau und den beiden Söhnen sich aufmachte und seine Heimat verließ. Die Familie kommt in das Nachbarland der Moabiter; dorthin, wo heute ungefähr Jordanien liegt. Doch die Familie findet alles andere als ihr Glück. Denn der Mann stirbt unversehens und lässt seine Frau als Witwe zurück. Glücklicherweise sind die beiden Söhne erwachsen und mittlerweile auch verheiratet mit Frauen aus dem Land, so dass die Mutter bei ihren Söhnen und Schwiegertöchtern – eine davon ist Ruth – leben konnte.
Doch nach zehn Jahren war auch dieser Friede zu Ende: Die beiden Söhne sterben ebenfalls verfrüht. Und so bleiben drei Witwen übrig: die Frau aus Juda mit ihren beiden moabitischen Schwiegertöchtern. Was sollten sie nun tun? Nun, sie würden tun, was Frauen damals in einer solche Situation taten: zurückkehren in die eigene Herkunftsfamilie. Und so fordert die Witwe aus Israel ihre beiden Schwiegertöchter auf, es ihr gleichzumachen und in ihre Herkunftsfamilien zurückzugehen.
Aber eine der beiden Schwiegertöchter weigert sich. Es ist Ruth. Sie möchte nicht in ihr altes Leben zurückkehren müssen. Sie möchte ihren weiteren Lebensweg selbst bestimmen. Und sie entscheidet sich dafür, an der Seite ihrer Schwiegermutter zu bleiben und mit ihr nach Israel zu gehen. So kommt es zu diesem Satz, der Geschichte gemacht hat: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.
Dieser Satz war aber in Wirklichkeit eine Revolution. Auf einmal steht Beziehung über Verwandtschaft. Ruth erweitert die damalige Vorstellung von einer Sippe, weil der Gott Israels ins Spiel kommt. Der berühmte Satz von Ruth hat nämlich noch eine Fortsetzung: dein Gott ist auch mein Gott. Wer ist meine Mutter und meine Geschwister? Die an diesen Gott glauben, sind meine Mutter und meine Geschwister. So hätte Ruth auch sagen können. Nicht zufällig findet sie sich später im Stammbaum Jesu wieder.
Die Revolution beginnt aber schon ganz am Anfang der Bibel. In der Schöpfungserzählung heißt es: ein Mann wird Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhängen. Die damalige Vorstellung von Sippe, wonach durch eine Hochzeit die Frau in die Sippe des Mannes eingegliedert wurde, wird erweitert – weil Gott es so will. Mann und Frau als Paar sind nicht länger nur ein kleiner Teil einer Sippe. Sie sind zu etwas Eigenem geworden, und zwar um ihrer selbst willen. Keine Zweckbeziehung, sondern Beziehung um der Beziehung willen.
Das heißt natürlich nicht, dass es für das Paar keine Sippe mehr gäbe. Ich bleibe Teil einer Familie, die man sich bekanntlich nicht aussuchen kann. Was sich aber ändert, wenn Gott ins Spiel kommt: die Bedeutung der biologischen Familie wird neu ausgerichtet. Und damit geöffnet. Im Falle des Ehepaares: die Schwiegertochter ist die Frau ihres Mannes und nicht die Untertanin der Schwiegermutter.
Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Dieser Satz Jesu hat noch weiter reichenden Konsequenzen. Er ist nämlich die Kampfansage an alle Vetternwirtschaft, also an die übermäßige Vorteilsbeschaffung durch und für Familienangehörige oder andere Verwandte. „Blut ist dicker als Wasser.“ Das ist der Inbegriff der Vetternwirtschaft. Er meint: Verwandtschaftsbeziehungen sind höher zu werten als Gesetze oder Gottes Gebot. Dagegen setzt Jesus den Gehorsam gegen Gottes Gebot über den Gehorsam gegenüber der Familie. Unser moderner Rechtsstaat wäre ohne die Unterordnung familiärer Verbindungen gegenüber Recht und Gesetz nicht denkbar. Der fundamentale Satz des Rechtsstaates, wonach niemand über dem Gesetz steht – auch nicht der mächtigste oder reichste Mensch, hat hier seinen Ursprung.
Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Dieser Satz Jesu will uns die Beziehung zu unseren leiblichen Geschwistern und Eltern nicht madig machen.
Vielmehr erweitert er diese Beziehung. Und so können wir uns, die wir hier versammelt sind, obwohl die wenigsten hier miteinander verwandt sind, als Schwestern und Brüder verstehen. Weil wir gemeinsam Gottes Willen tun wollen.
Wie antwortet Jesus auf den Hinweis, dass seine Familie draußen steht? Er lässt seinen Blick über die schweifen, die um ihn herumsitzen und bezeichnet alle, die den Willen Gottes tun, als Mitglieder seiner Familie. Auf einmal schauen nicht mehr alle nach vorne auf den großen Prediger und Wundertäter. Die Menschen im Raum geraten in den Blick; sie sind nicht länger Publikum, sondern bilden die Gemeinschaft derjenigen, die miteinander Gottes Willen tun. Dabei ist jede Person wichtig; jeder Mensch hat etwas beizutragen, damit der Wille Gottes in unserer Welt eine deutlich sichtbare Gestalt gewinnt.i
Jede Person in unserer Familie hier ist wichtig, damit Gottes Wille Gestalt bekommt. Und das dürfen wir ganz persönlich nehmen.
DEKAN DR. MATTHIAS BÜTTNER, ANSBACH
i Nach einer Idee von JOCHEN CORNELIUS-BUNDSCHUH, GPM (79) 2025, S. 404.